Vor dem Spring-und Dressurderby: über die Passion Pferd
Späne auf dem Boden,Halfter und Satteldecken an Haken, Futtertröge, Wassereimer, Schiebkarren, Gießkannen. Viel Heu. Transportkartons aus 24 Ländern. Plötzlich lautes Wiehern. Sprachgewirr. Praktisch in jeder Pferdebox hängen oder liegen Stoffbären und andere Kuscheltiere. Auch Vierbeiner wollen spielen. Derby liegt in der Luft. Vorfreude, Spannung, Konzentration. Professionelle Vorbereitung, wissen Reitersleute, Pflegerinnen und Betreuer, ist ein entscheidender Schritt zum Erfolg. Wer sich in der Dressur und über Hindernisse auf den Sprung macht, das Blaue Band zu gewinnen, muss Talent mit Präzision und Fortune verbinden. Das hat Tradition in Klein Flottbek. Mindestens seit 1920. Neben Ruhm und Legendenbildung geht es um 1,4 Millionen Euro Preisgelder.
Klein Flottbek hat eine getragene, edle Art.Tradition kann man nicht erbauen.
Pferde können menschliche Züge aufweisen – oder umgekehrt. Neugierig streckten Stuten, Hengste und Wallache ihre Köpfe aus den Boxen. Willkommene Abwechslung. In der lang gestreckten Gasse L der Zeltstadt abseits des Derbyparks mit insgesamt 510 Boxen ereignet sich Erstaunliches. Auf schlichten Campingstühlen nehmen zwei der bekanntesten deutschen Reiterinnen Platz. Auf Initiative des Hamburger Abendblatts, mit Visier auf die beiden Derbys an diesem Sonntag, Stelldichein zum Stallgespräch. In uriger Atmosphäre tauschen sich die Dressurkönigin und Olympiaikone Isabell Werth und Springreit-Lokalmatadorin Janne Friederike Meyer-Zimmermann über ihren Sport und die Passion Pferd aus. Es geht um das Festival in Klein Flottbek, um professionellen Einsatz als Athletinnen und Mütter, um Einsatzfreude, Sportsgeist – unter dem Strich um Leidenschaft im Leben.
„Es handelt sich um eine zeitlose Begeisterung“, sagt Werth. Als Hanseatin gönnt Meyer-Zimmermann ihrer Mitstreiterin aus der anderen Pferdesportsparte das Auftaktwort. Der Umgang ist freundschaftlich,herzlich. Zur Begrüßung gab es eine Umarmung. Letztlich sei es wie bei Menschen, philosophiert Isabell Werth. Sie lebt und arbeitet in Rheinberg im Nordwesten des Ruhrgebiets. „Ausbildung und Entwicklung eines Pferdes bescheren Erfüllung.“ Wenn man die Symbiose spürt, entstehen Vertrauen und Einklang. Zutaten sportlichen Erfolgs aus ihrer Sicht: Talent, Wille,Geist.
Für mich sind Pferde Lebewesen, die fliegen können.
Kollegin Meyer-Zimmermann nickt zustimmend. „Ich gehe jeden Tag gerne aufs Pferd“, sagt sie. Außerhalb des Familienlebens sei es die schönste Zeit des Tages, ihre „Me-Time“. Gelegenheit zur inneren Einkehr. Die knisternde Derbyatmosphäre habe sie schon als Jugendliche fasziniert. „Der Einritt in die Arena, die grandiose Stimmung, das faire Publikum bescheren Gänsehaut.“ Allerdings mehr bei den Kollegen. Wenn sie selbst im Sattel sitzt, bei erfolgreicher Qualifikation am Sonntag im Derby mit Electric Joy, überwiege Konzentration. Jetzt bloß kein Fehltritt.
Auch im mit 250.000 Euro ausgestatteten Grand Prix von Hamburg am Sonnabend geht „Janne“, wie die Hamburger sie vertraut zu nennen pflegen, mit Iron Dames Dubai Du Cedre chancenreich an den Ab-
sprung. Viel Zeit für Aufregung bleibt nicht. Courage hat sie bekanntlich. Als Olympiateilnehmerin, mehrfache Deutsche Meisterin, Europameisterin und Weltmeisterin ist sie eine Größe im Springreitsport. Anfangs in Harvestehude aufgewachsen, betreibt sie gemeinsam mit ihrem Ehemann den Hof Waterkant in Pinneberg-Waldenau. Ihr Team umfasst zehn Mitarbeiter. Jede und jeder war schon mal Kindersitter. Janne Friederike Meyer-Zimmermann bringt ihr Gefühl so auf den Punkt: „Ich liebe das Derby.“ Dass ihre sieben Jahre jüngere Schwester Anna Sophie Meyer, eine zweifache Mutter, im Klein Flottbeker Rahmenprogramm ebenfalls springt, sei ein Glücksfall.
Werth, mit acht Goldmedaillen bei Olympia und weiteren Triumphen mit 55 Jahren eine Sportlegende, befindet: „Klein Flottbek hat eine getragene, edle Art. Man wird von der famosen Stimmung mitgenommen.“ Und: „Tradition kann man nicht erbauen.“ Man habe sie – oder eben nicht. Hamburg hat. Dass die frühere Rechtsanwältin im Derbypark mehrere Jahre nicht antrat, liegt am Dressurderby mit Pferdewechsel. Wer überlässt die Zügel des liebevoll und partnerschaftlich trainierten Pferdes schon gerne fremden Händen? Ein neuer, mit 85.000 Euro dotierter Wettbewerb lockt die Championesse nun wieder in die Elbvororte. Hinzu kommen die Kontakte zur Dressurequipe im
Umfeld des neuen Derbychefs Matthias Rath.
Apropos Familie. Eine wie die andere fühlt sich durch das stabile Fundament eines intakten Privatlebens im Sport gestärkt. Werths Sohn Frederik (15) findet Boxen spannender als Reiten. Zusätzlich favorisiere der Schüler Treckerfahren auf dem heimischen Hof. In Hamburg soll Mutter Isabell ihm in diesen Tagen die Reeperbahn zeigen. Abgemacht. Meyer-Zimmermanns Kind Friedrich ist im Alter von drei Jahren auf eine Pferdestärke konzentriert. Mausi heißt der vierbeinige Kumpel, ein gutmütiges Pony mit mehr als 30 Jahren auf dem Rücken. Kleine Marotte der Mutter Janne Friederike: „Ich würde nicht sagen, dass ich Cowboystiefel sammle. Allerdings kaufe ich gelegentlich neue – und werfe die alten nicht weg.“
Ist die Frage nach Familie und Mutterrolle im Spitzensport spießig? „Überhaupt nicht“, entgegnet Isabell Werth. „Mich macht diese Doppelfunktion noch stärker.“ Janne Friederike Meyer-Zimmermann meint: Man wachse mit Aufgaben. Ihre Erfahrung: „Früher machte ich mir Sorgen, wie es bloß alles gehen soll. Und plötzlich ging es.“ Natürlich nur im Team mit Ehemann und Mitarbeiterinnen. Meyer-Zimmermann gilt als engagierte Vorreitern für Geschlechtergerechtigkeit und Teamgeist auch im sozialen Leben. Und wie nutzt Isabell Werth die knapp bemessene Freizeit in Hamburg? Am Mittwochabend traf sie nach siebenstündiger Autofahrt vom Niederrhein im Elysée-Hotel ein. Ihre drei Pferde wurden parallel transportiert. Abseits der Dressur stand ein Treffen mit ihrem in Hamburg lebenden Neffen Jan an, einem IT-Fachmann. Mit Freunden ging es anderntags ins Fischereihafen Restaurant.
Die gebürtige Hamburgerin Meyer-Zimmermann freut sich, dass auch ihre Eltern aus Schleswig-Holstein am Wochenende am Parcours die Daumen drücken. Jeder im Derbypark weiß, dass Janne an einem passenden Tag kleine und große Reitwunder vollbringen kann. Diese Einstellung steht in Harmonie zu ihrer persönlichen Philosophie: „Für mich sind Pferde Lebewesen, die fliegen können.“ Ob dies am Sonntag auch über so tückische Hürden wie Pulvermanns Grab, den Wall oder die Eisenbahnschranken gilt?